Robby Clemens will vom Nord- zum Südpol laufen. In zwei Jahren. Doch auch wenn das der große Traum des 53-jährigen Extremsportlers aus Leipzig ist, stand sein größter Sieg ganz am Beginn seiner Karriere: der über sich selbst.

— ein Gastbeitrag von Thomas Rottenberg über mich und mein Leben als Läufer und Mensch.

Robby Clemens will vom Nord- zum Südpol laufen. In zwei Jahren. Doch auch wenn das der große Traum des 53-jährigen Extremsportlers aus Leipzig ist, stand sein größter Sieg ganz am Beginn seiner Karriere: der über sich selbst.

„Wenn ich weitergemacht hätte, wäre ich dort krepiert, wo ich ohnehin schon war.“ Robby Clemens ist keiner, der verharmlost. Oder schönfärbt. Nicht, wenn er über sich selbst spricht. Darüber, wie wie er zu dem geworden ist, der er heute ist: ein Läufer. Einer, der nicht nur ein bisschen mehr, sondern auch ein bisschen anders läuft als Stars, Profis und hochdotierte Werbeträger. Clemens ist einer, der mit dem Laufen ganz anders begonnen hat. Ganz unten nämlich.

Das behauptete Clemens jedenfalls, als ich ihn kennenlernte. Wir waren auf der Kärntner Gerlitzen zufällig im gleichen Hotel abgestiegen. Weil wir beide Läufer sind, meinte der Hotelchef, ich solle doch einmal mit dem schlaksig-drahtigen Deutschen plaudern, ich würde es nicht bereuen. Der Mann sei rund um die Welt gelaufen und trainiere für den nächsten Streich: einen Nordpol-Südpol-Lauf.

Bis dahin hatte ich von Robby Clemens noch nie gehört. Und glaubte, der 53-Jährige aus Leipzig verarsche mich, als er von seiner Läuferwerdung erzählte: „Ich war Mitte 30, rauchte drei bis vier Packungen Zigaretten am Tag, wog 125 Kilo und hatte mich aufgegeben. Ich war schwerer Alkoholiker und hing mit den Pennern am Bahnhof herum.“

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Ja, eh, dachte ich, und ich habe lange blonde Dreadlocks. Aber red einmal weiter. Clemens sah mich an und grinste: Er roch meine Gedanken. Dann nahm er den Folder, der zwischen uns lag, und drehte ihn um. Unter dem Konterfei des Mannes, mit dem ich gerade sprach, war da ein zweites Porträtbild. Durchschnittstyp, mitteljung, füllig. „Das war ich früher. Bevor es abwärts ging. Und bevor ich mich entscheiden musste: aufgeben und draufgehen oder mich selbst aus dem Dreck ziehen.“

Der gelernte Installateur, der nach der Wende ein Unternehmen mit 100 Mitarbeitern aufgebaut hatte, war Mitte oder Ende der 90er in die Pleite geschlittert: Etliche Großauftraggeber zahlten plötzlich nicht. Der Betrieb ging unter, und er stürzte ab. In jeder Hinsicht. An dieser Stelle der Erzählung kam das Zitat von ganz oben.

Robby Clemens beschloss also zu leben. Er zog sich ein Paar Turnschuhe an und lief los. „Ich kam nicht weit. Nach einer halben Runde war ich am Ende.“ Es dauerte 14 Tage. „Dann schaffte ich zwei.“ Runden, nicht Kilometer. Eineinhalb Jahre später war es der erste Halbmarathon. „Ich hatte 80 Kilo, war der klassische Läufer und machte auch die klassischen Fehler: Bei meinem ersten Marathon vergaß ich, mir die Brustwarzen abzukleben. Im Ziel sah ich aus, als hätte man mich angestochen. Meine Zeit? Über fünf Stunden.“

Die Frage nach der Zeit amüsiert Robby Clemens. Und bringt ihn dorthin, wo er heute ist: „Genau darum, um Tempo, geht es mir nicht. Das war nie mein Thema. Das Ziel ist der Weg: Ich laufe, um den Lauf zu genießen. Um Menschen zu treffen und um dieses Geschenk, das mir das Laufen gab, weiterzugeben: Ich lebe, weil ich laufe, und deshalb laufe ich auch, damit andere leben.“

Einfacher gesagt: Clemens ist Profi- und Charity-Läufer. Er läuft also für Geld, und zwar auch für jenes Geld, das Sponsoren anderen zugutekommen lassen, wenn er läuft. Das erste Mal tat er es 2001. Knapp 500 Kilometer für ein Kinderkrebsprojekt. 2002 waren es schon mehr als 500 Kilometer für die Kinderkrebshilfe. 2003 lief Clemens von Basra nach Bagdad und sammelte Spenden für Kinder als Kriegsopfer.

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2004 joggte er 1.800 Kilometer von Athen nach St. Michael in Salzburg („Ich arbeitete und lebte damals dort“) und sammelte einige tausend Euro für die Salzburger Kinderkrebsgesellschaft. Und so weiter.

Mit den Läufen wuchs die Lust auf mehr, und 2007 lief Robby Clemens rund um die Welt. „World Run“ nannte er das Projekt, das ihn zwischen dem 3. Jänner 2007, dem Start in Leipzig, und dem 9. November, der Ankunft in Berlin, auf vier Kontinenten durch 27 Länder insgesamt 13.262 Kilometer zu Fuß zurücklegen ließ. Das entspricht 314 Marathons. Am heißesten Tag hatte es 51 Grad, am kältesten minus 17. Der höchste Punkt lag knapp 3.700 Meter über dem Meer, der tiefste (am Toten Meer) 420 Meter unter dem Meeresspiegel. „Aber die Erlebnisse und Emotionen des Laufes lassen sich nicht in Zahlen fassen.“ Neben den sportlichen, gesundheitlichen und menschlichen Höhen und Tiefen gab es auch die „politischen“ Augenblicke, etwa wenn an Grenzen Visa einfach für ungültig erklärt wurden. „Weil wir zuvor im ‚falschen‘ Land gewesen waren.“

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Doch trotz des Triumphes, den Lauf in 311 Tagen geschafft zu haben, stürzte der Läufer danach in ein Loch: „Ich bin ins Ziel gelaufen, aber nicht angekommen“, beschreibt Clemens es heute und gibt zu, dass er lange brauchte, um zu formulieren, was auch „Normalo“-Läufer oft beschäftigt: „Ich brauchte psychologische Hilfe, um zu erkennen, dass ich ein Ziel so formulieren muss, dass ich es auch tatsächlich fühle, wenn ich es erreichen. Also wenn die Aufgabe bewältigt ist.“ Um endgültig „anzukommen“, erkannte Clemens, brauchte er noch eine große Herausforderung. Nur: Was kann man auf „einmal um die Welt“ noch draufsetzen?

Clemens beschloss, die Richtung zu ändern. Nord–Süd hat laufend noch keiner gemacht. Nordpol–Südpol. 25.000 Kilometer. Vom Pol nach Grönland. Mit dem Flugzeug nach Kanada. Dann über Montreal, New York und Washington nach New Orleans. Texas. Mexiko. Panamakanal. Dann weiter nach Süden: Lima, Valparaiso, Feuerland. Zuletzt mit dem Flugzeug in die Antarktis und über das Eis zum Südpol.

Die Route über den amerikanischen Kontinent, sagt der Deutsche, habe vor allem, aber nicht nur geografische Gründe: Amerikaner sind euphorischer. Sowohl als Publikum als auch medial. „Beim World Run war ich zu Gast in einer großen Talkshow. Die nannten mich den deutschen Forrest Gump und setzten mich mit Tom Hanks ins Studio. Der war von der Pol-zu-Pol-Idee so begeistert, dass er zusagte, ein paar US-Etappen mit mir zu laufen.“

Dass so etwas hilft, Sponsoren zu finden, ist klar. Und billig ist so ein Abenteuer nicht: Allein die Reise zum Nordpol kostet ein kleines Vermögen.

Dass Hanks mit dem Extremläufer Schritt halten wird können, bezweifelt der Dauerläufer aus Deutschland keine Sekunde: „Ich laufe langsam. Ich konzentriere mich auf die Strecke. Ich genieße jeden Schritt und jeden Meter, weil ich laufe, um mich auf Menschen einzulassen. Um mit ihnen zu sprechen. Das geht nicht schnell, da muss man manchmal auch stehen bleiben.“ In Zahlen will Clemens das gar nicht fassen: „Ich stelle meine Laufuhren immer so ein, dass sie zwar Strecke und Puls, aber nicht das Tempo anzeigen.“ Aber wie langsam ist langsam? „Keine Ahnung, vielleicht sieben bis neun Kilometer pro Stunde. Aber das ist doch nicht wichtig. Ich habe Zeit, weil ich sie mir nehme.“

Zwei Jahre „on the road“ bedeuten eine Menge Vorbereitung. Logistik. Training. Gute vier Jahre arbeitet Clemens schon daran, seinen großen Traum umzusetzen. Und viel Zeit bis zum Start ist nicht mehr: Der Slot zwischen dem arktischen Winter und dem Aufbrechen der Eisdecke nach Grönland ist eng. „Wenn wir es diesen April nicht schaffen, müssen wir wieder ein Jahr warten.“ Aber Clemens ist optimistisch.

Bis dahin tut der Leipziger, was er auch sonst zwischen den Läufen tut: trainieren und vom Laufen erzählen. Nicht von Siegen, Rekorden und Triumphen, sondern von dem, was es ihm gibt. Zurückgegeben hat: „Ich verdanke dem Laufen mein Leben. Weil ich mich nicht aufgegeben habe. Das ist die Geschichte, die ich erzähle.“ (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 14.1.2015)

 

Erschienen ist der Artikel von Thomas Rottenberg ursprünglich am 14. Januar 2015 auf http://derstandard.at/2000010327471/Der-Mann-der-sich-nicht-aufgab

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